Verfolgung und Widerstand in Heidelberg 1933-1945
Heidelberg war eine ausgesprochen braune Stadt. Schon bei der Kommunalwahl Ende 1930 bekam die NSDAP mit 35,7% die meisten Stimmen. bei der Asta-Wahl der Universität im Sommersemester 1930 erreichte der rechtsradikale Block sogar die absolute Mehrheit. Die Nazi-Prominenz besuchte daher Heidelberg sehr gerne. Kein Wunder also, dass Oberbürgermeister Dr. Carl Neinhaus, Mitglied der NSDAP, 1933 Adolf Hitler und 1939 Dr. Joseph Goebbels zu Ehrenbürgern erkor. Kennzeichnend für die damalige Bürgerschaft war, dass Neinhaus 1928 zum OB gewählt, von den Nationalsozialisten übernommen und von der CDU 1952 erneut als OB-Kandidat vorgeschlagen und gewählt wurde.
Nach der staatsstreichartigen Machtübergabe an Hitler durch Hindenburg am 30. Januar 1933 – unter Befürwortung von Hochfinanz, Großindustrie und alten Eliten – gingen die Faschisten zügig an die Verwirklichung ihres Programms „Nationalsozialismus“: Bekämpfung und Beseitigung von Marxisten, Kommunisten und Juden als angebliche Wurzeln allen Übels, Schaffung eines Großdeutschlands mit möglichst rein „arischer“ Bevölkerung und Vorbereitung eines neuen Eroberungskrieges. Diese Vorhaben waren nur in einer Diktatur umsetzbar. Die "Regierung der nationalen Erhebung" verfügte im Reichstag jedoch nur über 42 % der Sitze (NSDAP 33 %, DNVP 9 %).
Das sollte durch die Reichstagswahl am 5. März 1933 unter Ausnützung aller Machtmittel korrigiert werden. Schon am 28. Februar 1933 waren mit der "Verordnung zum Schutz von Volk und Staat" alle Grundrechte außer Kraft gesetzt worden. Mit Versprechungen in großmundigen Propagandareden Hitlers "Gebt uns 4 Jahre Zeit...", Hetze gegen die Demokratie – das "System" - Verleumdung der Kommunisten als Reichstagsbrandstifter und massiver Wahlkampfbehinderung von KPD, SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) und SPD durch Presseverbote und Verhaftungen unter rücksichtsloser Gewaltanwendung von Polizei, SA und SS (reichsweit wurden über 70 Morde gezählt) erhielt die Hitler-Koalition schließlich 52 % der Reichstagssitze. Es war die letzte formal noch freie Wahl. Die Errichtung der Hitler-Diktatur am 23. März 1933 war quasi nur noch Formsache: Kassierung der 81 KPD-Sitze, Ermordung und Verhaftung von 15 SPD-Abgeordneten sowie etwas Druck auf die bürgerlichen Fraktionen reichte, die Zweidrittelmehrheit für die Ermächtigung zu erzwingen. selbst der spätere Bundespräsident Theodor Heuss gab sein Ja.
Zuerst traf es die politischen Gegner. Schon vor der Reichstagswahl wurden in Heidelberg 24 Kommunisten beim Verteilen von Wahlmaterial in "Schutzhaft" genommen, nach der Wahl wurden weitere 34 Kommunisten aus Heidelberg und Umgebung verhaftet, darunter 4 Frauen, und teilweise mehrere Monate lang gefangen gehalten. Arbeiterwohngebiete wurden nach politischem Material und Waffen durchsucht, beide KPD-Stadträte sowie alle 9 KPD-Stadtverordneten verhaftet, ebenso die Redakteure der SPD-Zeitung "Volksstimme" in der Schröderstrasse; KPD- und SPD-Presse wurden nun völlig verboten. Das Gewerkschaftshaus in der Rohrbacher Strasse wurde von der SA gestürmt, 8 Gewerkschaftssekretäre sowie der Wirt kamen in Schutzhaft, die Gewerkschaften wurden aufgelöst und ihr Vermögen beschlagnahmt. Nach dem Parteienverbot am 22.06.33 wurden auch die 3 SPD-Mandate aufgehoben und der Stadtrat völlig gleichgeschaltet. Bereits in den ersten Wochen der NS-Diktatur wurden 15 Arbeiter-funktionäre aus Heidelberg in die KZs Kislau (bei Mingolsheim) und Heuberg (bei Stetten am Kalten Markt) verschleppt.
Bis Ende März 1933 wurden 40 Heidelberger Arbeitervereine und Organisationen verboten, 62 Mitarbeiter aus städtischen Diensten widerrechtlich entfernt und 14 Beamte beurlaubt oder zur Ruhe gesetzt. Insgesamt wurden über 600 Mitarbeiter der städtischen und staatlichen Einrichtungen aus politischen oder rassischen Gründen entlassen. Aus der Universität wurden 62 von 206 Professoren, Dozenten und Lehrbeauftragten ausgeschlossen oder zur Emeritierung gezwungen, 30 % des gesamten Lehrkörpers. 27 links eingestellte Studierende wurden ab Juni 1933 von allen deutschen Hochschulen ausgeschlossen.
1933 lebten in Heidelberg 1102 Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens und weitere 115 mit jüdischer Abstammung, etwa 1,5 % der Bevölkerung. Nach dem November-Pogrom erfolgte die völlige Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben und die Vernichtung ihrer wirtschaftlichen Existenz. Sie wurden aus den meisten Berufen ausgeschlossen und ihre Geschäfte und Gewerbebetriebe boykottiert. Jüdische Einzelhandelsgeschäfte gingen in Konkurs oder mussten weit unter Wert verkauft werden. Handwerksbetriebe mussten mangels Aufträgen schließen, Großhandelsgeschäfte und jüdische Fabriken gingen in Konkurs oder wurden verkauft. Ab Dezember 1938 durfte kein jüdisches Kind mehr eine deutsche Schule besuchen, für Juden gab es ein Verbot des Betretens kultureller Einrichtungen oder Erholungsstätten. Öffentliche Verkehrsmittel durften nicht mehr benutzt, Rundfunkgeräte, Schallplatten, Fahrräder, Kameras usw. mussten abgeliefert werden. Seit Kriegsbeginn am 1. September 1939 durften Juden nicht länger Mieter in "arischen" Häusern sein und wurden in besonderen Judenhäusern, z.B. Bunsenstr. 19a und Landfriedstr. 14 zusammengepfercht. Das sichtbare Tragen des "Judensterns" wurde ab September 1941 befohlen. Schließlich wurden am 22. Oktober 1940 auf Betreiben der Gauleiter von Baden und Saarpfalz, Wagner und Bürckel, die jüdischen Bürger Heidelbergs morgens zwischen 4 und 7 Uhr von Gestapo-Leuten aufgefordert zu packen – nur 50 Pfund Gepäck und 100 RM waren zur Mitnahme erlaubt – und gezwungen, sich vormittags auf dem Marktplatz einzufinden, von wo die verängstigten Menschen auf Lastwagen zum Bahnhof gefahren wurden. Um 18.15 Uhr fuhr der Deportationszug mit 282 Frauen, Kindern und Männern in verplompten Wagen von Heidelberg ab (17 weitere Heidelberger von anderswo). Nach 4-tägiger Fahrt kamen die Unglücklichen in einem Barackenlager bei Gurs an den Pyrenäen an. Insgesamt wurden über 6500 Juden aus ganz Baden und der Saarpfalz nach Gurs verschleppt. Es herrschten schrecklichste gesundheitliche und hygienische Zustände.
55 Heidelberger starben in Gurs, 31 an anderen Orten in Frankreich und 109 kamen später in verschiedenen Vernichtungslagern im Osten ums Leben. 91 der Deportierten überlebten, weil sie auswandern oder sich verstecken konnten. Von 13 Personen ist das Schicksal unbekannt. Transportunfähige Kranke und deren nächste Angehörige, Mitglieder der jüdischen Gemeindeverwaltung und in Mischehe lebende Juden und deren Kinder wurden in kleineren Transporten in den folgenden Jahren deportiert. Das "Gedenkbuch für die Opfer der NS-Judenverfolgung in Baden-Württemberg" nennt die Namen von 258 Heidelberger Bürgerinnen und Bürgern. Nur wenige überlebten in Heidelberg. Im November 1945 lebten hier noch 40 jüdische Bürger. Noch im Februar 1945 sollten die letzten übriggebliebenen Juden in das KZ Theresienstadt verschleppt werden. Darunter auch der spätere Oberbürgermeister von Mannheim, Dr. Fritz Cahn-Garnier. Eine wagemutige Heidelbergerin, die Sozialdemokratin Otti Winteroll, versteckte ihn 44 Tage lang in ihrer Wohnung im Atzelhof bis zum Einmarsch der Amerikaner Ende März 1945.
Zeugen Jehovas verweigerten ihrer Überzeugung folgend den NS-Herren den Hitlergruß, die Arbeit in Rüstungsbetrieben, den Fahneneid und jeglichen Kriegsdienst. Die Glaubensgemeinschaft der Ernsten Bibelforscher wurde verboten; trotzdem verbreiteten sie ihre Schriften, in denen die Zeugen Jehovas aufgefordert wurden, ihrer Glaubensüberzeugung treu zu bleiben und nach ihrem biblisch geschulten Gewissen zu handeln, z.B. Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Zwei ihrer Heidelberger Mitglieder kamen wegen ihrer Standhaftigkeit im KZ Dachau ums Leben, ein weiterer Zeuge Jehovas verweigerte in Russland den Kriegsdienst und wurde erschossen.
An der Psychiatrisch-Neurologischen Universitätsklinik in Bergheim bestand seit Anfang 1942 eine Zweigstelle der Berliner Euthanasie-Zentrale, der "Euthanasie-Forschungsstelle Heidelberg" unter Leitung von Prof. Dr. Carl Schneider. Er betrieb Langzeituntersuchungen zu Epilepsie und Idiotie und arbeitete 1942 an einer "Absterbeordnung für Idioten". Seine Assistenten, die Doktoren Schmieder, Rauch und Wendt, standen auf einer Gehaltsliste der Euthanasie-Zentrale. Im Jahr 1944 ließ Schneider 21 geistig behinderte Kinder ermorden, um an ihren Gehirnen Untersuchungen vorzunehmen. Ein Gedenkstein vor dem Klinikportal erinnert seit 1998 an diese minderjährigen Opfer. Carl Schneider beging im Dezember 1945 in Untersuchungshaft Selbstmord, seine Mitarbeiter jedoch machten nach 1945 Karriere.
Die Schicksale von ungezählten Homosexuellen, Zwangssterilisierten, geistig oder körperlich Behinderten oder sonstigen nicht den NS-Vorstellungen von "Ariern" entsprechenden Mitmenschen, die als "Querulanten", "Asoziale", "Arbeitsscheue", "Psychopathen", "Artfremde", "Lebensunwerte" und dergleichen mehr bezeichnet wurden, sind nur in Einzelfällen bekannt; wie viele dieser gedemütigten und verfolgten Menschen in der Region Heidelbergs ihr Leben verloren, liegt noch weitgehend im Dunkeln. Im Rahmen einer 2003 durchgeführten Doktorarbeit wurden jedoch 226 Patientinnen und Patienten der Psychiatrischen Universitätsklinik nachgewiesen, die zwischen 1936 und 1945 in die "Heil-und Pflegeanstalt Wiesloch" verlegt und in den Tötungseinrichtungen Grafeneck und Hadamar ermordet wurden.
In zahlreichen Behelfsunterkünften und Baracken wurden während der Kriegsjahre in Heidelberg Tausende Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen unter meist erbärmlichen Bedingungen einge-pfercht; das Stadtarchiv verzeichnet 27.000 Einzelfälle. Sie mussten ohne oder bei geringer Bezahlung und bei ungenügender Verpflegung und medizinischer Betreuung in Fabriken, Gewerbebetrieben, Bauernhöfen und bei der Stadt Heidelberg arbeiten. Es gab viele Todesfälle und Hinrichtungen wegen geringster Vergehen. So beobachtete eine Anwohnerin das Erhängen von 5 Zwangsarbeitern im Hof der Waggon-fabrik Fuchs. Auf den Heidelberger Friedhöfen wurden mindestens 327 Gräber von Kriegsgefangenen, verschleppten Ausländern und deren Kindern gezählt, davon 171 ohne Namen. Eine Gedenkplatte auf dem Ehrenfriedhof trägt die Inschrift: "Hier ruhen in einem gemeinsamen Urnengrab 177 polnische, sowjetische und jugoslawische Tote des Jahres 1945". Auf dem Kirchheimer Friedhof besagt eine Gedenk-platte: "Hier ruhen 34 polnische und 20 sowjetische Tote des Kriegsjahres 1944". Erst in den letzten Jahren wurde den ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern eine geringe Entschädigung gezahlt.
Kurz vor der Befreiung wurden in Heidelberg noch vier junge deutsche Soldaten erhängt, weil sie nicht mehr weiterkämpfen wollten – zwei in der Rohrbacher Straße und zwei am Ortsausgang Handschuhsheim. Alexander Mitscherlich berichtet dazu:
Völlig ungeordnet wanderten Hunderte von jungen Soldaten an uns vorbei. Sie hatten, willentlich oder nicht, den Anschluss an ihre Truppenteile verloren oder aufgegeben. Gleichzeitig versuchten letzte SS-Einheiten, die nicht begreifen wollten, dass das Ende des Dritten Reiches sich vollzog, durch Standgerichte und Erschießung die Flüchtlingsflut zum Halten zu bringen. An der nördlichen Ausgangsstraße von Heidelberg … konnte man jetzt zwei junge Soldaten an Apfelbäumen aufgehängt sehen als Beispiel, das abschrecken sollte … Der Kriegsrichter, der die Hinrichtung der vielleicht 17-jährigen Jungen angeordnet hatte, blieb nach dem Krieg im Amt, und zwar als Professor des Strafrechts. Die Szene wird noch unheimlicher, wenn man erfährt, dass dieser Kriegsrichter keineswegs ein Nazi war, sondern einfach ein professioneller Unmensch, der der „Gerechtigkeit“ freie Bahn zu schaffen wähnte.